Eindringliche Reise in die Abgründe der menschlichen Seele

21.03.2024

Eindringliche Reise in die Abgründe der menschlichen Seele

„Es ist kein schönes Stück“, warnt Julian W. Koenig sein Publikum zu Beginn der Aufführung und schon die Bühne, ein mit Wilddraht umzäuntes Gehege voller schmutzig-grauer Lumpen, gibt eine Ahnung von dem, was die Oberstufe der Zinzendorfschulen in der kommenden Stunde erwartet. Der einzige Darsteller der Inszenierung spielt Büchners Woyzeck und auch noch Marie, den Tambourmajor, den Hauptmann und den Doktor. Mit Ausnahme des Mörders Franz Woyzeck erwachen die anderen Figuren als Puppenfragmente zum Leben, Köpfe, Hände und ein Kleidungsstück über einem Bügel – mehr braucht es nicht, wenn König mit präzisem Wechsel in Ausdruck, Tonfall und Dialekt in ihre Rollen schlüpft.

Die Vorstellung des Karlsruher Theaters mobile Spiele unter der Regie von Thorsten Kreilos nähert sich dem Stoff auf eine Weise, die den Schülerinnen und Schülern der Oberstufe der Zinzendorfschulen den Abiturstoff nahebringt und ihnen hilft, das noch immer aktuelle Drama aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Koenig erklärt in der anschließenden Diskussion: „Eigentlich ist die Geschichte einfach. Es gibt einen Mann und eine Frau, Frau betrügt Mann, Mann bringt Frau um.“ Doch genau wie Büchners Fragment geht die Inszenierung weit darüber hinaus und stellt viele Fragen: Wie ist es dazu gekommen? Wer trägt Schuld? Was macht einen Menschen überhaupt aus? Hatte Woyzeck eine Wahl?

Die Darstellung von Woyzecks inneren Abgründen ist beklemmend und intensiv. Im Fieberwahn durchwühlt er Berge von schmutzigen, blutigen Kleidern, kriecht wie ein konditioniertes Tier durch seine Welt und stopft undefinierbares Essen aus einer Konservendose in sich hinein, nur um es gleich wieder in die Dose zu erbrechen und erneut zu essen – ein erschütterndes Bild von Verzweiflung und Zerstörung, dem die Zuschauer als Voyeure nicht entkommen können.

Die Inszenierung zeigt auf eindringliche Weise, dass die Geschichte von Menschen am Rande der Gesellschaft auch fast 200 Jahre nach ihrer Entstehung nichts an Aktualität verloren hat. Das Szenenbild erinnert bewusst an die zurückgebliebenen Schuh- und Kleiderberge von Auschwitz oder die Stofffetzen in den Straßen ukrainischer Städte. Somit wird die Kulisse zu einem mahnenden Symbol für das Leiden und die Gewalt, die Menschen einander antun.

Woyzeck ist eine eindrucksvolle und beklemmende Aufführung, die das Publikum auf eine intensive Reise in die Abgründe der menschlichen Seele mitnimmt und dabei Fragen nach Schuld, Menschlichkeit und Verzweiflung aufwirft, die noch lange nachhallen.


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